Das, von der Covid19 Pandemie geprägte, Jahr 2020 haben die Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ganz unterschiedlich verbracht. Während manche die vermehrte Zeit in den eigenen vier Wänden vorwiegend auf der Couch verbrachten, haben andere so viel Sport getrieben wie noch nie zuvor. Ich kann mich zur zweiten Gruppe zählen und so stellte sich mir kürzlich die Frage: Was tun mit der entstandenen Überform? Everesting!
Im Jahr 2020 wurde Österreich, wie viele andere Länder auch, in den ersten Lockdown im Zusammenhang mit dem Coronavirus geschickt. Ausgangsbeschränkungen wurden verhängt, Kontakte mussten vermieden werden und das Leben veränderte sich für alle schlagartig auf eine bis dahin kaum vorstellbare Art und Weise. Nachdem die Polizei in Österreich einige Maßnahmen zur Covid19-Prävention deutlich strenger exekutierte, als es die rechtliche Lage tatsächlich hergab und man selbst bei Sport im Freien mit Anzeigen rechnen musste, wechselte ich – wie viele andere auch – in die virtuelle Welt des Radfahrens. Die spielerische Art des Trainings auf Zwift, mit freigespielten Strecken, Fahrrädern und Badges zog mich nachhaltig in seinen Bann und ist auch nach diversen Lockerungen und darauffolgenden Verschärfungen der Corona-Maßnahmen zum festen Bestandteil meiner sportlichen Aktivitäten geworden.
In meinem guten Freund, Carl, habe ich einen ebenso fitten und ehrgeizigen Bike-Kumpel gefunden, der stets für kreative Herausforderungen zu haben ist. Im Regelfall hat einer von uns eine Idee, die dann vom jeweils anderen noch erweitert und verkompliziert wird. Im gegenständlichen Fall lautete das Vorhaben: Everesting!
Das Konzept ist denkbar einfach: man sucht einen Berg oder Anstieg und fährt diesen innerhalb einer Aktivität so oft, bis die gesammelten Höhenmeter der Seehöhe des Mount Everests entsprechen – also 8848 m (bzw. seit 2020 knapp 8849 m). Das gesamte Reglement ist auf der Seite der Australischen Initiatoren „Hells 500“ nachzulesen: https://everesting.cc
Die Idee stammt von Rennradfahrern und so wurden auch fast alle erfolgreichen Outdoor-Everestings auf asphaltierten Strecken bewältigt. Das geringere Gewicht eines Rennrades und der verringerte Rollwiderstand auf Asphalt sind klare Argumente für ein Everesting auf der Straße. Carl und ich verstehen uns allerdings primär als Mountainbiker und zu einfach soll es ja auch nicht sein. Die Wahl des Anstiegs fällt auf den Anninger in Mödling, ein paar Kilometer südlich von Wien. Obwohl ich nun einerseits seit einigen Jahren in Wien lebe und andererseits in den Alpen sowie in einigen fernen Ländern spektakuläre Gipfel mit dem Fahrrad bezwungen habe, bleibt der Anninger „mein“ Berg. Ich habe dort meine erste Mountainbike-Tour unternommen und kann mich noch gut erinnern, wie ich im „Brunnen-S“, dem steilsten Abschnitt des Anstiegs, mein Stahl-Hardtail schieben musste. Seitdem sind über zwei Jahrzehnte vergangen und nach hunderten Auffahrten hat der Anstieg seinen Schrecken weitgehend verloren.
Im Zuge der Vorbereitungen versuchen wir unsere abfahrtsorientierten Hardtails für die bevorstehende Aufgabe zu optimieren. Der Federweg der Gabel wird reduziert, Klickpedale werden montiert und die grobstolligen Gravity-Reifen weichen weltcuperprobten XC-Rennreifen von Kenda. Rekordverdächtig leicht sind unsere Bikes mit Alurahmen und Dropper-Post zwar immer noch nicht, aber wie schlimm können die errechneten 25 Uphills schon werden?
Passend zur Sinnhaftigkeit des Vorhabens haben wir das Datum für den Everesting-Versuch fixiert: 1. April 2021. Aus mehreren Gründen wollen wir um 20 Uhr mit unserer ersten Auffahrt starten. Die Abfahrten bei Dunkelheit sind trotz potenter Bikelampen nicht ungefährlich. Wenn diese allerdings gleich zu Beginn stattfinden, ist zumindest die Erschöpfung noch nicht allzu groß und die Konzentration hoffentlich noch entsprechend hoch. Außerdem möchte ich es aus psychologischen Gründen unbedingt vermeiden, während der letzten Auffahrten abermals in die Dunkelheit hineinzufahren und stattdessen bei Tageslicht das Ziel erreichen.
Euphorisch angespannt starten wir pünktlich um 20 Uhr in unser Abenteuer. Wolfgang, der uns bereits in der Vorbereitung tatkräftig unterstützt hat, begleitet uns auf den ersten Auffahrten und deponiert einige Essensvorräte in einem Unterstand bei etwa einem Drittel des Anstieges. Wir wissen, dass die Verpflegung einer der Schlüssel zum Erfolg sein wird. Zwei- oder dreistündige Biketouren sind auch ohne Nahrungsaufnahme kein Problem, aber im Falle derart langandauernder Belastungen sollte man nie auf Hunger oder Durst warten. Alle zwei Runden tausche ich meine Wasserflasche gegen eine neue und versuche eine Kleinigkeit zu essen. Wolfgang hat sich mittlerweile verabschiedet, dafür stößt unser Radlkollege Markus für zwei Runden dazu.
Erste Hochrechnungen verpassen uns in den ersten Stunden der Nacht auch einen kleinen Dämpfer. Ich war auf Grundlage der Höhendaten einer Testfahrt von 25 erforderlichen Auffahrten ausgegangen. Auf den ersten Runden absolvieren wir allerdings nur gut 340 Höhenmeter je Auffahrt, weshalb uns eine sechsundzwanzigste Auffahrt wohl nicht erspart bleiben wird, um die geforderten 8848 m zu überbieten.
In der Eintönigkeit der Nacht ist jede Motivation zur Überwindung des inneren Schweinehundes willkommen. Ich habe mir in der Vorbereitung eine Liste mit Gipfeln zusammengestellt, deren Seehöhe in etwa den bereits bewältigten Höhenmetern der jeweiligen Runde entspricht. Diese Liste klebt auf dem Oberrohr meines Hardtails und nach jeder erfolgreichen Auffahrt kann ich nun den vorbereiteten Abriss des jeweiligen Gipfels entfernen – eine sonderbare Genugtuung, die mich dabei jedes Mal erfüllt. Bis zur dreizehnten Auffahrt stehen auf meiner Liste lauter Berge, die ich bereits mit dem Bike erklommen habe (in den seltensten Fällen fahrend). Danach beginnt für mich die rote Zone, mit mir unbekannten Gipfeln.
Runde um Runde und Abriss um Abriss radeln wir durch die Nacht und es geht mir erstaunlich gut dabei, von Müdigkeit eigentlich keine Spur. Als um 04:30 Uhr Wolfgang wieder zu uns stößt und uns mit einer Thermoskanne Kaffee versorgt, ist die Stimmung ausgezeichnet. Wolfgang begleitet uns abermals für zwei oder drei Auffahrten und langsam beginnt mit dem einsetzenden Morgengrauen unter Vogelgezwitscher auch im Wald wieder das Leben.
Um 08:20 Uhr haben wir bereits fünfzehn Runden absolviert und es folgt ein lang ersehntes Highlight. Meine Mutter bringt uns frische Eierspeis und Schwarzbrot vorbei – was für eine großartige Abwechslung zu den süßen Riegeln!
Am frühen Vormittag folgt die für mich härteste Zeit. Die Temperaturen sind im Vergleich zur Nacht gesunken und liegen bei 7 oder 8°C. Eigentlich ist das nicht wahnsinnig kalt, aber ich kann mit tiefen Temperaturen generell schlechter umgehen und die zunehmende Erschöpfung tut ihr Übriges. Nur durch einen kompletten Kleidungswechsel, mit frischer Radhose, trockenem Unterziehshirt, Wintertrikot und Windstopper-Jacke schaffe ich es wieder, mich zu erwärmen. Außerdem kommen nun wieder einige Freunde vorbei, um uns für ein paar Auffahrten zu begleiten. Als am späten Vormittag dann auch noch meine Frau, Ali, und Carls Frau, Elisa, vorbeikommen, um uns anzufeuern, ist mein kleines Motivationstief endgültig überwunden.
Die Runden am frühen Nachmittag vergehen für mich wie im Flug. Die Sonne zeigt sich langsam wieder, es wird wärmer und immer mehr Radlerinnen, Spaziergänger und Läuferinnen sind nach der Arbeit im Wald unterwegs. Bei fast jeder Auffahrt werden wir nun von Freunden am Rad begleitet, die uns die Strapazen vergessen lassen.
Nach 22 Auffahrten habe ich eine letzte längere Pause eingeplant und die hätte ich nicht besser timen können. Trotzdem Ali im neunten Monat schwanger ist, hat sie mir einen Nudelsalat gemacht und zu unserer Verpflegungsstation nach dem ersten Drittel des Anstiegs gebracht – Weltklasse!
Gestärkt und euphorisch dem Ziel entgegenfiebernd, gelingen mir die letzten Auffahrten mit richtig guten Zeiten von jeweils unter 30 Minuten je Anstieg. Um 18 Uhr und somit 22 Stunden nach unserem Start rolle ich ein letztes Mal von meinem Hausberg herunter.
Unten angekommen, bin ich richtig nervös, als ich nach so langer Zeit endlich die Stopp-Taste am Fahrradcomputer betätige. Es ist geschafft, 9110 Höhenmeter und 221 km können wir am Ende bilanzieren.
Zwei Tage später kommt dann auch die sehnsüchtig erwartete Nachricht aus Australien – unser Everesting wurde offiziell anerkannt: https://everesting.cc/hall-of-fame/#/hill/5056375571
An dieser Stelle möchte ich mich nochmals bei allen Unterstützern bedanken, die uns während der Aktion begleitet haben: Andi, Alex, Harold, Herb, Luki, Markus, Martin, Stefan, Steven und Sven!
Mein ganz besonderer Dank richtet sich an Ali und Elisa für die Unterstützung, die Verpflegung, das Anfeuern und das Aushalten unserer Ideen, an meine Mama für die Eierspeis und an Wolfgang für den Support bereits in der Planung und während des Everestings zu den Unzeiten spät abends und in den frühen Morgenstunden!